Montag, 26. Oktober 2009

Kino | Antichrist

Durch Unachtsamkeit verliert ein Ehepaar sein Kind. Geschüttelt von Schuldgefühlen, Leid und Trauer stürzt sich die Frau in tiefe Depressionen. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zu einer abgelegenen Hütte mitten im Wald, wo er versuchen wird, sie zu therapieren. Die Bekämpfung der Depressionen wird mehr und mehr zu einer biblisch anmutenden Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern vor der Urkulisse der Natur.



"Antichrist" löste weltweit hitzige Diskussionen aus. Bei der Pressekonferenz nach seiner Uraufführung in Cannes stürzte sich einer der Reporter förmlich auf Regisseur Lars von Trier und forderte Rechenschaft von ihm, warum er diesen Film gemacht habe.
Der Grund für diese Kontroversen ist leicht zu sehen. Nicht nur bietet der Film einige der sicherlich grausamsten Bilder der vergangenen Kinojahre, er bietet schon vor eigentlicher Sicht des Films ein frauenfeindliches Motiv. Das letzte "T" im Schriftzug auf den Plakaten wird vom Symbol für das weibliche Geschlecht gebildet. Und auch im Film finden sich Themen, unter Anderem die historische Verfolgung von Frauen als Hexen oder die Handlungen des weiblichen Charakters, die dieses Motiv unterstreichen.

Die Charakterisierung der beiden namenlosen Hauptfiguren (leidenschaftlich und erstklassig dargestellt von Willem Dafoe und Charlotte Gainsbourg) wird früh im Film deutlich, als sich ihre Reaktionen auf den Tod ihres Kindes heftig unterscheiden. Sie durchlebt das komplette Spektrum an psychischer Qual das ein so tragisches Erlebnis mit sich bringt, während Er durchweg rational, distanziert und kühl bleibt in seinen Versuchen, ihr zu helfen. Der einzige Konsens den die Beiden zu erreichen scheinen ist ein sexueller. Ironischerweise ist der körperliche Liebesakt gleichzeitig das Einzige, mit dem Er seine Frau beruhigen kann.
Die Figuren zeigen geschlechtsspezifische Eigenschaften, die ihnen traditionell zugeordnet werden. Unkontrollierte und irrationale Emotionalität der Frau und das genaue Gegenteil beim Mann. Spätestens als die Beiden sich auf den Weg in den Wald namens "Eden" machen wird deutlich dass der Film von der biblischen Mythologie inspiriert ist.



Was mit den Eheleuten passiert und schließlich in einem blutigen Chaos endet ist eine sehr interessante und bedeutsame Interpretation des grundsätzlichen Verhältnisses zwischen Mann und Frau. Von Trier setzt sich mit der Frage auseinander inwiefern eine emotionale Beziehung zwischen Mann und Frau funktionieren kann, indem er seine beiden archetypischen Bilder von feminin und maskulin aufeinander loslässt. Die Antwort und somit das Ende des Films könnte pessimistischer nicht sein.

Die starke Depression unter der der Regisseur zum Drehzeitpunkt litt findet sich im Film merklich wieder. Was als tristes Familiendrama beginnt verzerrt sich nach Überquerung der Brücke nach Eden zu einem verstörenden und beinahe schmerzvoll intensiven Horrorfilm, der mich wie kaum ein anderer Film zuvor gradezu überwältigt hat. Versteckt hinter der Fassade des Horrors findet sich eine Menge interessanter Symbole und Bilder, deren Bedeutung ich zugegebenermaßen bei einer Erstsichtung nicht wirklich begriffen habe.

Seine beklemmende Atmosphäre erreicht der Film natürlich nicht nur durch die explizite Darstellung von Gewalt zum Ende hin, sondern durch ein visuelles Konzept das buchstäblich von der ersten Sekunde an zu gefallen weiß. Aufgeteilt in vier Kapitel sowie Prolog und Epilog ist bereits der in schwarz/weiß gehaltene Prolog ein bedeutsames Stück Kunst. Unterlegt mit Georg Friedrich Händels Stück "Laschia ch'io pianga" werden dem Zuschauer zunächst die beiden Hauptcharaktere vorgestellt, während sie in der Dusche Sex haben. Was folgt ist ein Wechsel zu ihrem Sohn, der sich aus seinem Babygitter befreit und sich in Richtung des Schlafzimmerfensters bewegt, ohne dass seine miteinander beschäftigten Eltern es bemerken. In einer schmerzvollen Montage zeigt von Trier nun eine Umkehrung des Sexualaktes. Durch ihn wird kein neues Leben begonnen, sondern es wird Eines beendet.

Der Vorwurf dass von Trier hier ein misogynes Bild der Frau zeichnet ist meiner Meinung nach, obwohl oberflächlich begründet, nicht wirklich haltbar. Vielmehr geht es hier um die Unfähigkeit der Geschlechter, einander zu verstehen und miteinander zu leben.

Viele Aspekte des Films sind in dieser nichtsdestotrotz sehr langen Besprechung nicht zum Tragen gekommen. Nicht zuletzt liegt das daran, dass ich während der ersten Sichtung des Films von seiner Atmosphäre sehr eingenommen war, was wenig Platz zur objektiven Betrachtung seiner Symbolik gelassen hat. Eine Zweitsichtung (in Originalversion) wird auf jeden Fall folgen. Was ich aber mit Sicherheit sagen kann ist, dass Lars von Trier mit "Antichrist" einen sehr ästhetischen, interessanten und wertvollen Film geschaffen hat.

9/10

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